Nachrichten aus dem Versandhandel
 (Bild: Buybay)
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Wie Verhaltenspsychologie die Retourenquote im E-Commerce senkt

17.02.2022 - Retouren-Sendungen belasten die Umwelt, aber auch Händler und KundInnen. Verhaltenspsychologie kann helfen, die Zahl der Retouren signifikant zu senken.

von Dr. Philipp Spreer

Die E-Commerce Beratung elaboratum hat gemeinsam mit Behamics und der Universität St. Gallen im weltweit größten Feldexperiment mit mehr als 100.000 Online-Shoppern gezeigt, wie kleine Anpassungen große Wirkung erzielen - und jährlich in Deutschland mindestens vier Prozent (16 Millionen Pakete) der Retouren eingespart werden könnten. Dafür braucht es konkrete Entscheidungshilfen, die auf Behavioral Design basieren.

Die Umsatzzahlen im E-Commerce steigen nach wie vor rasant. Analog dazu jedoch seit Jahren auch die anfallenden Retouren. Im Corona-Jahr 2020 wurden 15,9 Prozent aller Onlinebestellungen an die Händler zurückgesendet - allein in Deutschland entsprach dieser Wert 315 Millionen Paketen. Rücksendungen sind nicht nur schädlich für die Umwelt, sie widersprechen eigentlich auch den Interessen aller Beteiligten. Die Händler zahlen inklusive aller Nebenkosten im Schnitt 19,51 Euro je Retoure, KundInnen kostet eine Rücksendung durchschnittlich 32 Minuten Lebenszeit.

Führt das dazu, dass Retouren zum seltenen Phänomen werden? Ganz und gar nicht: Die Retourenquote stagniert seit Jahren auf hohem Niveau. Dieses Verhalten lässt sich mit dem "Intention-Action-Gap" erklären.

KonsumentInnen wollen nachhaltiger leben und Retouren vermeiden, die "Intention" ist also vorhanden. Allerdings mangelt es offensichtlich an der konkreten Handlung ("Action"). Denn im Entscheidungsmoment eines digitalen Kaufabschlusses, im Warenkorb, fehlt es an wirksamen Impulsen. Doch es gibt Lösungen: In der Feldstudie konnte elaboratum gemeinsam mit den Partnern aufzeigen, dass durch den Einsatz von verhaltenspsychologischen Maßnahmen eine Reduzierung der Retourenquote um rund vier Prozent möglich wird.

Die Gründe für Retouren verstehen
Retouren entstehen aus verschiedenen Gründen - diese zu verstehen ist essenziell, um passende Gegenmittel zu identifizieren. Vor der Durchführung der Studie wurde eine Klassifizierung von Retouren durchgeführt. Neben der Unterscheidung, welche Rücksendungen in der Verantwortung der Händler und welche in der Verantwortung der KundInnen liegen, wurde als zweite Dimension die praktische Vermeidbarkeit von Retouren analysiert. Dabei entsteht eine Matrix, die deutlich macht, dass nicht alle Retourengründe verhaltenspsychologisch angegangen werden können.

Es wird immer harte Retourengründe geben, die von keiner retourenreduzierenden Methode vermieden werden können.

Strategien zur Retourenvermeidung
Bei der Vermeidung von Retouren kann auf verschiedene Methoden zurückgegriffen werden: Restriktion oder Unterstützung. Bei restriktiven Maßnahmen wird der Einkauf für KundInnen unattraktiver - das reicht von subtilen Hindernissen im Retourenprozess bis zum Ausschluss von Viel-Retournierenden. Jedoch: Derart harte Maßnahmen werden von Händlern in der Praxis kaum eingesetzt. Und das ist auch gut so, denn in 53 Prozent der Fälle würden sie zu einem Kaufabbruch führen, so das Ergebnis des Shopping-Frustbarometers 2021 von elaboratum.

Wer also seine KundInnen nicht verärgern möchte, sollte unbedingt auf unterstützende Maßnahmen setzen. Hierzu zählen zum einen verbesserte Produktinformationen oder monetäre Incentivierungen. Auf der anderen Seite auch verhaltensökonomische Interventionen wie Transparenzhinweise, Aufklärung zu den Folgen von Retouren oder aber soziale Signale. Diese Ansätze liegen im Fokus des Behavioral Designs und sind in der Lage, die aufgezeigten Optimierungen bei vermeidbaren Retouren hervorzurufen.

Interventionen, die Wirkung zeigen - Es braucht konkrete Entscheidungshilfen
Die Verhaltensökonomie bzw. Behavioral Economics ist eine seit Jahren aufstrebende Wissenschaftsdisziplin, die ihre Ursprünge in der Schnittmenge zwischen Psychologie und Wirtschaftswissenschaften hat. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass sich Menschen in vielen Situationen nicht so verhalten, wie es klassische ökonomische Erklärungsmodelle
erwarten ließen.

Sie entscheiden vor allem unbewusst. Basis dieser Entscheidungen sind daher unbewusste Verhaltensmuster. Die Disziplin der Behavioral Economics folgt dem Anspruch, Verhalten effektiv zu beeinflussen, ohne auf monetäre oder restriktive Maßnahmen zurückzugreifen und Kunden nicht zu manipulieren, sondern ein für sie vorteilhaftes Verhalten zu unterstützen.

Die Forschung hat inzwischen mehr als 120 intuitive Verhaltensmuster identifiziert. Um bestimmte dieser Verhaltensmuster auszulösen und Verhalten in einer gesamtgesellschaftlich gewünschten Weise positiv zu beeinflussen (z. B. bewussterer Konsum, Kauf langlebigerer Produkte oder eben Vermeidung von Retouren), können wirksame Interventionen eingesetzt werden. Dieser Prozess heißt "Behavioral Design". Im Feldexperiment zeigt sich, dass bereits geringfügige Veränderungen in der Kommunikation zu signifikanten Veränderungen im
Verhalten führen können.

Studienergebnisse: Ausgewählte Interventionen (Behavior Patterns), die sich als besonders effektiv bei der Retourenvermeidung erwiesen haben
* Soziale Norm
Diese Intervention kommuniziert, dass viele andere KundInnen sich bereits nachhaltig verhalten, indem sie Retouren vermeiden, und motiviert BesucherInnen, es ihnen gleichzutun.
* Reziprozität
Reziprozität ist die Tendenz, sich für einen Gefallen bei seinem Gegenüber revanchieren zu wollen. Die Intervention kommuniziert daher den Gefallen bzw. die Vorleistung des Online-Shops in Form von Produktinformationen und Größenberatung, um im Gegenzug zu kooperativem Verhalten zu motivieren.
* Loss Aversion
Die Verlustaversion beschreibt, dass Menschen Verluste höher gewichten als Gewinne. Die Darstellung eines realen Zeitverlusts von durchschnittlich 32 Minuten durch unüberlegtes
Bestellen dient dazu, Verlustaversion hervorzurufen.
* Illusion of Control
Das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Kontrolle führt zu einer positiven Einstellung und kann damit die Kooperationsbereitschaft von BesucherInnen begünstigen.

Um das Behavior Pattern soziale Norm auszuspielen, wird bei der Warenkorbbestätigung ein Hinweis gezeigt, der den Kaufenden konkrete Hinweise gibt und bei der Entscheidungsfindung und aktiven Vermeidung von Retouren einen Impuls setzt. (Bild: Elaboratum)
Bild: Elaboratum
Um das Behavior Pattern soziale Norm auszuspielen, wird bei der Warenkorbbestätigung ein Hinweis gezeigt, der den Kaufenden konkrete Hinweise gibt und bei der Entscheidungsfindung und aktiven Vermeidung von Retouren einen Impuls setzt.


Als Kontaktpunkte für die Interventionen wurden der Warenkorb, die Warenkorbbestätigung sowie die Bestellbestätigung ausgewählt. Ein konkretes Beispiel: Um das Behavior Pattern soziale Norm auszuspielen, wird bei der Warenkorbbestätigung ein Hinweis gezeigt, der den Kaufenden konkrete Hinweise gibt und bei der Entscheidungsfindung und aktiven Vermeidung von Retouren einen Impuls setzt.

Die eingesetzten Interventionen wirken sich in zweierlei Hinsicht auf das Verhalten der KundInnen aus: Zum einen senken sie durchweg signifikant die Retourenquote. Zum anderen wirken sie sich oft auch auf die Conversionrate aus. Bewusstere Bestellungen führen teilweise zu einer geringeren Conversion. Häufig befürchtete Umsatzrückgänge lassen sich dabei jedoch keineswegs bestätigen. Denn das bewusstere Bestellverhalten führt dazu, dass mehr Artikel behalten werden. Im Ergebnis steigen die Nettoumsätze deshalb sogar trotz geringerer Conversionrate. Retourenreduzierung und Umsatzwachstum schließen sich also nicht aus - ganz im Gegenteil!

One Solution fits all? Dynamische Überzeugung sticht statische Lösungen
Einige Reaktionen auf einzelne Maßnahmen haben sich als stabil und reproduzierbar herausgestellt. Um die Wirkung zu maximieren und langfristig abzusichern, sollten Gewinnervarianten aber nicht dauerhaft und über mehrere Kontexte hinweg ausgerollt werden. Gerade der Online-Handel zeichnet sich durch ständig veränderte Entscheidungskontexte aus: Promotionen, komplexe Sortimente mit variierender Verfügbarkeit, unterschiedliche Charakteristika der KundInnen. Um gewünschte Verhaltensänderungen zuverlässig und risikofrei erzielen zu können, ist daher eine dynamische und differenzierte Ausspielung von Interventionen sinnvoll.

In sechs Schritten zu weniger Retouren
Um mit Behavioral Design gegen Retouren vorzugehen, eignet sich ein erprobter Sechs-Punkte Plan für die Praxis.
1. Strategische Planung
Ambitionierte Ziele definieren (etwa sich an den Branchenbesten orientieren), Verbündete suchen und finden sowie Branchen-Benchmarks identifizieren.
2. Retourengründe analysieren
Rücksendeformulare auswerten, Bewertungen prüfen und lesen, in direkten Kontakt mit KundInnen treten.
3. Bedürfnisse hinter dem Verhalten verstehen
Was treibt Menschen zu ihrem Verhalten? Sicherheit, Kontrolle, Bequemlichkeit und weitere.
4. Entscheidungsengpässe identifizieren
Informationsdefizite, wenig aussagekräftige Produktbilder, kein Fokus auf Retoureninformationen vorhanden.
5. Handwerkliche Retourenreduzierung
Wirksame Behavior Patterns aus den vorhandenen Bedürfnissen ableiten, Interventionen visuell gestalten, Entscheidungsengpässe beseitigen.
6. Extrameile gehen Darüber hinaus: Einsatz von Tools für bessere Analysen und technologiegestützte automatisierte Auslieferung von genau passenden Interventionen zur Senkung der Retourenrate.

Dabei unterstützen die Potenziale von künstlicher Intelligenz: Algorithmen können aus den unterschiedlichsten Konstellationen von Einflussvariablen (z.B. dem Klickverhalten der UserInnen) lernen und die jeweils optimale Botschaft vorhersagen und ausspielen. Aus dem Pool von Behavior Patterns wird mit Deep-Learning-Ansätzen die passende Intervention ausgewählt und an passenden Kontaktpunkten im Online-Shop ausgespielt. Auf Veränderungen im KundInnenverhalten wird somit in Echtzeit reagiert. Tools für diese bessere Analyse und technologiegestützte automatisierte Auslieferung der passenden Interventionen gibt es bereits.

Fazit
Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, dass verhaltenspsychologisch fundierte Interventionen zu signifikanten Verhaltensänderungen führen können. Hierin liegt auch eine klare Empfehlung an alle E-Commerce-Händler: Die Hürden sind nicht eklatant hoch, der Bedarf auf der anderen Seite ist es. Ohne monetäre oder restriktive Maßnahmen kann durch erhaltenspsychologische Anpassungen viel erreicht werden. Die im Rahmen der Studie durchgeführten Experimente haben aufgezeigt, dass die Retourenrate bereits mit den wenigen verwendeten Mitteln um rund vier Prozent gesenkt werden kann.

Eine weitere konzeptionelle Verfeinerung der Interventionen, zusätzliche Behavior Patterns und Training des Interventionsalgorithmus könnten diesen Wert auf mindestens fünf Prozent steigern. Doch allein vier Prozent weniger Retouren bedeutet in Zahlen jährlich 15,75 Millionen weniger Rücksendepakete in Deutschland und damit rund 13.000 t weniger CO2 - um diese Menge zu kompensieren, müssten 13 Millionen große Bäume gepflanzt werden. Die Zeit zu handeln ist jetzt, die Mittel sind verfügbar, es bedarf seitens der Händler nun nur den entsprechenden Mut zur Umsetzung.